Seward Johnson, Meister des Alltäglichen
Der amerikanische Künstler Seward Johnson liebte es, seine Figuren mitten im Alltag zu platzieren. Und jedes Mal muss ich zweimal hinschauen – ist der echt? Etwa der Mann, der in Detroit auf die Hochbahn wartet und dabei die „Detroit News“ liest. Alles an ihm ist realistisch gestaltet, von der Zeitung bis zum Cordstoff seiner Hose.
Oder der junge Mann, der an einer Wand lehnt und mit seinem Handy telefoniert, den Rucksack lässig über die Schulter geworfen. Fast wäre ich achtlos an ihm vorbeigegangen.
Seward Johnson wurde am 16. April 1930 in New Brunswick, New Jersey, geboren. Sein Großvater, Robert Wood Johnson, war der Mitbegründer von Johnson & Johnson, einem Unternehmen, das heute zu den weltweit größten Herstellern von Medizin- und Pharmaprodukten gehört.
Der junge Johnson fiel weder als Schüler noch als Student mit besonders guten Leistungen auf. Er arbeitete – vermutlich recht lustlos, weil er lieber malen wollte – im Familienunternehmen, bis sein Onkel ihn hinauswarf. Von da an widmete er sich ernsthaft seiner Künstlerkarriere, erst als Maler, dann als Bildhauer.
Während andere Künstler sich in ihren Werken von der Realität entfernten, ging Johnson konsequent den umgekehrten Weg. Seine Skulpturenserie „Celebrating the Familiar“, die Menschen bei alltäglichen Aktivitäten zeigt, machte ihn weithin bekannt. Das war etwas ganz Neues! Denn bis dahin hatte sich die Kunst im öffentlichen Raum auf klassische Skulpturen beschränkt, die abgehoben von hohen Sockeln blickten.
Die Leute waren begeistert, und es gab kaum jemanden, dem nicht ein Lächeln im Gesicht stand, wenn er oder sie die Figuren betrachtete. Die Kunstkritiker jedoch rümpften die Nase, wie immer, wenn Kunst gefällt und einem größeren Publikum zugänglich ist. „Das ist nicht Kunst, sondern Kitsch!“, entschieden sie.
Seward Johnson und „The Kiss“ – sehr umstritten
Später machte Seward Johnson mit überlebensgroßen Skulpturen auf sich aufmerksam. „Icons Revisited“, so nannte er die Serie, die er nach berühmten Fotos gestaltete. Zum Beispiel die junge blonde Frau im weißen Kleid, die über einem Lüftungsgitter in der New Yorker U-Bahn steht. Der Luftstrom lässt den faltenreichen Rock des Kleides in die Höhe wehen – und der Fotograf drückt auf den Auslöser. So entsteht das wohl bekannteste Bild von Marilyn Monroe, und Johnson hat es in eine neue Dimension übertragen.
Auch das Gemälde „American Gothic“ von Grant Wood ist in den USA ein ikonisches Bild. Seward Johnson hat es dreidimensional und überdimensional in Szene gesetzt. Auf seine Weise und mit ein paar kleinen charmanten Änderungen. Er nannte sein Werk „God Bless America“.
Anlass zu heißen Diskussionen gab ein anderes Werk dieser Serie. „Unconditional Surrender“, „Bedingungslose Kapitulation“, das ist der Titel einer 7,6 Meter hohen Skulptur, die ein küssendes Paar zeigt. Die berühmte Vorlage, eine Schwarzweiß-Aufnahme, entstand am 14. August 1945 auf dem Times Square in New York. An diesem Tag verkündete die amerikanische Regierung, dass der Krieg im Pazifik zu Ende sei, Japan habe bedingungslos kapituliert. Die Menschenmenge auf dem Platz geriet in einen Freudentaumel. Fremde umarmten und küssten sich, und in dieser Situation schoss ein Fotograf das Bild eines Seemanns, der eine Krankenschwester küsste.
Es scheint, dass der Seemann die junge Frau mehr oder minder wahllos aus der Menge herausgegriffen hat, und es ist äußerst zweifelhaft, ob sie mit diesem Kuss einverstanden war. Was den Schluss nahelegt, dass es sich um einen sexuellen Übergriff handelte. Was wiederum nichts daran ändert, dass Johnsons Skulptur in mehreren amerikanischen Städten vertreten ist. Wir haben sie im südkalifornischen San Diego gesehen und bei einer Floridareise gleich zweimal, in Key West und in Sarasota.
Weil der Titel doppeldeutig ist, hat Johnson sein Kunstwerk inzwischen umbenannt, es heißt nun „Embracing Peace“, „Den Frieden umarmen“. Wobei die meisten Leute es einfach „The Kiss“ nennen. In meinem Kalifornien-Lesebuch findest du ein ganzes Kapitel über die Skulptur, die am Hafen von San Diego so auffällig in die Höhe ragt.
Geheimtipp: „Grounds For Sculpture” in New Jersey
Gleich am Eingang des Skulpturenparks erwartet uns ein fröhliches Empfangskomitee mit Willkommensschildern – die perfekte Einstimmung auf ein besonderes Erlebnis. Der Park mit dem Namen „Grounds For Sculpture“ in der kleinen Ortschaft Hamilton in New Jersey, abseits der üblichen Routen des Tourismus, ist ein Geheimtipp – und eine Top-Empfehlung von uns! Nimm dir Zeit für einen ausgiebigen Spaziergang auf dem weitläufigen Gelände, und du wird hinter jeder Wegbiegung eine Überraschung erleben.
Zum Beispiel die Studentin, die auf dem Rasen liegt und nur kurz von ihrem Ordner mit den Notizen aufschaut. Oder das Ehepaar mit dem Fernglas – die beiden kenne ich doch schon aus Key West! Und ganz hinreißend sind die Figuren, die aussehen, als wären sie geradewegs einem impressionistischen Gemälde entstiegen, um Teil der dreidimensionalen Wirklichkeit zu werden. Die Serie „Beyond the Frame”, „Außerhalb des Rahmens“, ist das Ergebnis einer weiteren Schaffensphase des Künstlers. Und eine, die er offenbar mit Lust und Spaß verfolgt hat, so prall und bunt, wie seine Figuren daherkommen.
„Grounds For Sculpture“, mit Landschaftspark und Museum, liegt rund drei Meilen nordöstlich von Trenton, der Hauptstadt von New Jersey. Die Sammlung umfasst mehr als 270 zeitgenössische Skulpturen, viele davon großformatig, mit Werken von Johnson und anderen amerikanischen und internationalen Künstlern.
Seward Johnson starb am 10. März 2020, fünf Wochen vor seinem 90. Geburtstag – wer kann schon auf ein so langes und produktives Leben zurückblicken!
Tipp für USA-Reisende: Das Seward Johnson Atelier, die Organisation, die das künstlerische Erbe des Meisters verwaltet, zeigt auf seiner Website die Standorte der Skulpturen an.